Offener Brief zur Lage der globalen Kultur


Geneigter Leser,

Kürzlich traf der gefeierte abstrakte Maler F. den malenden Gorilla Susi, von dem sich bekanntlich einige der hervorragendsten Kunstkritiker die Erneuerung der Postmoderne erhoffen. Die Begegnung der beiden Künstler soll außerordentlich fruchtbar gewesen sein. Noch am selben Tag gelang es dem unvergleichlichen Aktionisten N., nach tiefer Meditation und Versenkung in alte Mysterien, ein Gebilde von solch majestätischer Erhabenheit zu scheißen, dass viele Betrachter – darunter etliche Politiker – spontan auf die Knie fielen und in Tränen ausbrachen.

Just zur selben Zeit suchte der berühmte Physiker D. den Schamanen Trächtige Wolke auf, um die Reduktion der Wellenfunktion mit dessen Traum vom All-erschaffenden Blick des weißen Vogels zu vergleichen sowie Beziehungen herzustellen zwischen dem physikalischen Konzept der Zeitreisen durch Wurmlöcher und dem damit eng verwandten schamanischen Konzept der Aufhebung der Zeit durch Alkohol und andere Drogen. Ebenfalls gleichzeitig erlangte der Physiker H., vormals einer der bekanntesten String-Theoretiker, nach einer dreijährigen Zeit des Leidens, in der er sich einsam und nackt auf einem Turm in Cambridge sitzend den Hintern bis zum Steißbein durchgescheuert hatte, endlich Satori – er erkannte, dass die ultimative Theorie von Allem unsagbar sei, weil das Tao, das gesagt werden kann, niemals das wahre Tao ist.

Weitere erstaunliche Ereignisse folgten unmittelbar: Das von dem Genetiker A. erschaffene, genetisch optimierte Schaf Kitty erklärte, es sei viel intelligenter als sein Schöpfer und übernehme jetzt dessen Job, der Hirnforscher R. beteuerte händeringend, nicht er selbst rede Unsinn, er sei bloß das ohnmächtige Sprachrohr seiner Neurone, der Born Again Prediger Q. kündigte den Zeitpunkt des Weltuntergangs auf eine millionstel Sekunde genau an (in Jerusalemer Ortszeit natürlich), und der Philosoph S. betonte, es handle sich bei alldem um überaus wichtige Angelegenheiten, die genau überwacht werden müssten.

Nicht unmittelbar Zeuge dieser außerordentlichen Vorkommnisse gewesen zu sein bedaure ich umso mehr, als deren zeitliche Koinzidenz ja keineswegs als zufällig aufgefasst werden kann, sondern dem vermittelnden Wirken jenes morphogenetischen Feldes zugeschrieben werden muss, das die in letzter Zeit so intensiv spürbare kosmische Spannung verursacht. Kein Zweifel, dass der lang erwartete Bewusstseinssprung der Menschheit bevorsteht!

Wohin wird er uns führen?

Verehrter Leser! – Sie von diesen intellektuellen Gipfeln auf der Höhe der Zeit, wo ich Sie atemlos anteilnehmend vermute, in die Niederungen der einfachen Vernunft herabzulocken – die so lang verschwunden war und hier wieder aufersteht – würde ich nicht wagen, wäre nicht die Ernte so überwältigend reich. Verantwortungslos aber wäre es, Sie nicht zu warnen, denn mit der Vernunft verhält es sich wie mit anderen starken Drogen: unvorbereitet in zu hoher Dosis genossen führt sie leicht zu Beschwerden, zum Schock oder gar zum Tod durch Gedankenstillstand – besonders nach einer so langen Zeit der Enthaltsamkeit.


Mit freundlichen Grüßen

Heinz Heinzmann




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